Coca gehört zur Familie der Erythroxylazeen, von der 250-300 Varietäten bekannt und von denen wiederum etwa 200 in Latein- amerika vorzufinden sind. Die Pflanze ist überwiegend am feuchten Andenostaufgang heimisch und wird zum Großteil in Kolum- bien, Peru und Bolivien angebaut. In Bolivien lassen sich zwei Arten unterscheiden. Erythroxylum cocalam, auch Coca Huanuco genannt, wurde schon vor der spanischen Kolonialisierung auf Terrassen in der 500 bis 2000 Meter hoch gelegenen Yungas-Region kultiviert. Im tiefer gelegenen und damit heißeren Chapare-Gebiet wurde erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts die Sorte Erythroxylum novogratenense aus Kolumbien eingeführt. Der Cocabusch in Bolivien wird zwischen 0,5 (Yungas) und 2,5 Meter (Chapare) hoch. Die kleinblättrige Paceña aus den Yungas wird seit jeher für den traditionellen Konsum verwendet, während die Chapareña sich aufgrund ihres bitteren Geschmacks nicht so sehr zum Kauen eignet und daher nur von den ärmsten Bevölkerungsschichten kon- sumiert wird. Grund ist unter anderem der höhere Alkaloidgehalt von Erythroxylum novogratenense. Wie beim Kaffee, kann man daher die qualitativ hochwertigere Hochlandcoca von der preislich günstigeren Tieflandcoca unterscheiden.
Da Coca hinsichtlich des Bodens sehr anspruchslos ist, sind vor allem die klimatischen Bedingungen für das Gedeihen ent- scheidend. Die Pflanze benötigt Sonne und ausreichend Wasser. Bei günstigen Klimaverhältnissen sind vier Ernten im Jahr möglich. Die Blätter werden anschließend getrocknet und können dann sofort verwendet werden. Beim Kauen werden dem Coca- klumpen durch den Speichel und unter Verwendung einer alkalischen Substanz, in der Regel Pflanzenasche, seine Inhaltsstoffe entzogen. 1975 führte eine Harvardstudie zu dem Ergebnis, dass 100 Gramm gekauter Cocablätter unter anderem den Tages- bedarf an Kalzium, Eisen, Phosphor, sowie den Vitaminen A, B6, B12, C und E decken.
Neben dieser ernährungsphysiologischen Bedeutung, hat der Cocakonsum auch anästhesierende und leistungssteigernde Wir- kung. So wird etwa das Hunger- und Durstgefühl oder die Schmerz- und Kälteempfindlichkeit verringert. Zugleich wird die Sauer- stoffaufnahmekapazität erhöht, der Kreislauf stimuliert, was schließlich auch, ähnlich wie beim Kaffeekonsum, die Müdigkeit mindert. Eine berauschende Wirkung beim Konsum von Cocablättern bleibt völlig aus. Lediglich breitet sich, vor allem bei Ver- wendung des alkalischen Katalysators, ein leichtes Taub- heitsgefühl in der Mundhöhle aus, welches auf die anästhesierende Wirkung von Kokain zurückzuführen ist, eines von vierzehn Alkaloiden, die das Blatt enthält. Aufgrund der physiologischen Eigenschaften könnte man Coca sogar als Grundnahrungsmittel für die ländliche Bevölkerung in den Anden bezeichnen. Sie ergänzt die eintönige und kohlenhydrathaltige Diät mit wichtigen Vitaminen und Spurenelementen. Gleichzeitig wird sie als Heilmittel gegen Höhenkrankheit, Magen-Darmerkrankungen oder Herz-Kreislauf- beschwerden eingesetzt.
Die Bedeutung von Coca für die indigene Bevölkerung Boliviens erschöpft sich jedoch nicht in den oben genannten Eigen- schaften. Die Blätter erfüllen auch wichtige gesellschaftliche und religiöse Funktionen. Die soziale Funktion der Coca fängt beim gemeinschaftlichen Kauen an oder, wenn z.B. zur gegenseitigen Begrüßung Cocablätter ausgetauscht werden. Generell sind die Blätter ein wichtiges Tausch- und Zahlungsmittel. Beim so genannten Ayni, wenn sich Nachbarn gegenseitig helfen und bei- spielsweise bei der Ernte zur Hand gehen, dürfen Cocablätter nicht fehlen. In diesem Fall erfüllen sie einen wichtigen Bestandteil der Reziprozität, das zentrale Prinzip innerhalb der Cosmovisión Andina, der andinen Weltanschauung. Verschiedene Mythen und Legenden ranken sich um die Coca, so etwa, dass "Mama Coca" eine Frau gewesen sei, die sich in diese Pflanze verwandelt habe, um ihre Kinder zu nähren. Solche mythologischen Erzählungen tragen dazu bei, der Cocapflanze magisch-religiöse Eigen- schaften zuzuweisen. So werden Cocablätter auch zu Opfergaben, die bei Ritualen, wie dem alljährlichen Opferritual für die Pachamama, die Mutter Erde, dazu dienen, die Gottheiten zu besänftigen und milde zu stimmen. Oder aber sie werden von Schamanen und Weisen, so genannte Yatiris oder Curanderos, als Kommunikationsmedium verwendet, um mit übernatürlichen Kräften in Kontakt zu treten. Beim Werfen von Cocablättern auf ein Tuch und der anschließenden Interpretation anhand von Form, Farbe, Struktur und Konstellation mit anderen Blättern durch den Yatiri, macht sich dieser die magischen Eigenschaften der Blätter selbst zu Nutzen und liest aus ihnen, wie aus einem Wahrheitsbuch.
Dies ist nur ein Versuch die komplexe Bedeutung der Cocapflanze für die Menschen der Anden in einem kompakten Text zusammenzufassen. In jedem Fall wird deutlich, dass zumindest in unserem "europäischen Kulturkreis" keine an Bedeutung vergleichbare Kulturpflanze existiert.
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